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Arbeiten und IV | 21. März 2024 | Marco Riva

Autismus: Chancen bei der beruflichen Integration

«Autismus alleine ist auch keine Superkraft», meinte ein Patient während einer Therapiesitzung. Natürlich hat er recht, dass ein Mensch mit Autismus keine besonderen Kräfte besitzt und damit in die Kategorie der Superhelden fällt.

Dieser Satz sagt allerdings sehr viel über die autistische Denkweise und die zentrale Problematik im Umgang mit autistischen Menschen aus. Darauf möchte ich in diesem Artikel vertieft eingehen. Aktuell findet ein wichtiger Wechsel in der Diagnostik statt. Die WHO hat im Jahr 2019 der Revision des Diagnostikmanuals ICD zugestimmt. So entfallen inskünftig die Unterdiagnosen wie «Asperger-Syndrom» oder «Frühkindlicher Autismus» und das Störungsbild wird zu «Autismus-Spektrum-Störung» zusammengefasst. Neu werden auch sensorische Besonderheiten wie Über- und/ oder Unterempfindlichkeit bei Geräuschen, Licht, Texturen, Schmerzen, Temperatur u.a. von autistischen Menschen beachtet und bei der Diagnose berücksichtigt. Dies geht über den mangelnden Augenkontakt hinaus, der Teil der Kommunikationsfähigkeit ist.

Aussergewöhnliche Kräfte


Zurück zur «Superkraft»: Ein Satz in der Version 11 des ICD beschreibt eine neue Perspektive für Autismus: «Manche Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung sind in der Lage, durch aussergewöhnliche Anstrengungen in vielen Bereichen angemessen zu funktionieren, so dass ihre Defizite für andere möglicherweise nicht erkennbar sind». Dieser Aspekt ist in der täglichen psychotherapeutischen Arbeit Dreh- und Angelpunkt. «Sie schauen mich ja an und sprechen mit mir, darum können Sie kein Autist oder keine Autistin sein». Diesen Satz höre ich von Menschen mit Autismus sehr oft, wenn sie von Gesprächen mit Fachpersonen erzählen.

Schöne Seite zeigen

Es ist urmenschliches Verhalten, dass wir anderen Menschen unsere «Schokoladenseite» präsentieren. Wenn wir zum Beispiel nicht gut rechnen können, werden wir immer versuchen Rechnen-Situationen zu vermeiden. Menschen mit Autismus sind ihre Schwierigkeiten implizit bewusst und sie tun natürlich alles, damit ihre Defizite nicht sichtbar werden. Wenn sie beispielsweise von Personen im sozialen, schulischen oder beruflichen Umfeld schlecht gespiegelt werden mit «Du hast das falsch verstanden», «Es ist nicht so, wie du das wahrnimmst» oder «Strenge dich mehr an, dann schaffst du das!», hinterfragen sich die betroffenen Menschen und werden sich noch mehr anstrengen.

Balance finden

Sie versuchen ihre Superkraft anzuzapfen, die es jedoch nur in der Fantasiewelt gibt. Letztlich ist der Versuch, die Superkraft zu aktivieren, Raubbau am eigenen Körper und an der psychischen Verfassung. Menschen mit Autismus haben einen erheblich höheren Energieverbrauch bei gleichzeitig erschwerten Fähigkeiten, sich zu regenerieren. Wenn ich mich ständig maximal anstrenge, um angemessen zu funktionieren, fällt mir gleichzeitig die Entspannung schwer. Diese ständige energetische Anspannung geht mit einer Wachsamkeit einher, die physiologisch mit einer Stressreaktion gekoppelt ist. Psychologischer Stress führt zu einer hohen Konzentration der Stresshormone, was uns zu Höchstleistungen antreibt und gleichzeitig unseren Körper auf «Flucht oder Kampf» einstellt. 

Die Superkraft ist gefunden! Eine andauernde Ausschüttung der Stresshormone macht uns krank, was gerade autistische Menschen im frühen, spätestens im mittleren Erwachsenenalter deutlich spüren. Depressive Symptome und diffuse Schmerzen sind häufig Teil des Autismus. Es wird nicht nur für die Direktbetroffenen, sondern auch für das professionelle Umfeld schwierig. Die vermeintliche Superkraft wird zum heftigen Boomerang und löst tiefgreifende Probleme aus, welche in Bezug auf Autismus bisher kaum beachtet wurden.

Beziehung stärken

«Autismus alleine ist auch keine Superkraft», aber es ist für Menschen mit Autismus ein zentraler Antrieb und aus ihrer Sicht die Chance, in dieser Welt zu bestehen. Menschen aus ihrem Umfeld hilft diese Sichtweise, mehr Verständnis aufzubringen. Komische Verhaltensweisen, wie eine nicht empathische Ansprechweise, mürrisches Verhalten, verbale Attacken oder das Nörgeln über körperliche Beschwerden, erscheinen in einem anderen Licht, wenn die Stressreaktionskette verstanden wird.

Viele Menschen mit Autismus möchten richtig verstanden werden. Wenn ich es schaffe, dass eine Ebene des Verständnisses entsteht, sind Menschen mit Autismus sehr loyale und extrem treue Menschen und zu grossartigen Leistungen bereit. Allerdings erst, wenn sie sicher sind, dass ihre Grosszügigkeit ihnen am Ende nicht auf die Füsse fällt. Diese Beziehungsarbeit ist eines der wichtigen Ziele im Umgang mit autistischen Menschen.

Portrait Marco Riva

Marco Riva

Dipl. Psychologe, Psychologe SBAP, FSP, eidg. anerk. Psychotherapeut

Marco Riva hat eine Praxis für Psychotherapie, Lernbegleitungen und Coaching und betreut Klienten der beruflichen Integration beim BSB.

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